
Geschichten aus den Hunsrückdörfern
Mosaik einer Heimat von Edgar Reitz

Im Herbst 1980 entsteht der Dokumentarfilm „Geschichten aus den Hunsrückdörfern“, zu einer Zeit, da Edgar Reitz sich gemeinsam mit seinem Co-Autor Peter Steinbach in Woppenroth im Hunsrück auf sein kommendes Projekt „Heimat“ vorbereitet.
Es sind die Geschichten dieser Region, Sagen, Kriegsanekdoten oder „Hunsrücker Stückel’sche“, die von Hunsrückbewohnern dem Filmemacher, mithin dem Publikum erzählt werden. Die klassische Interviewsituation ist dabei aufgebrochen. Es geht nicht primär um die Informationen und deren vermeintlichen Charme, sondern um die Menschen, die diese mitteilen, um ihre Verortung in ihrem Umfeld, in ihrer Heimat.
Wirt Lamberti sinniert über das Dreikaiserbild im Gasthaus Schmidt. Familie Walter führt die moderne Einrichtung ihres neuen Hauses vor und erinnert sich dabei an das alte, inzwischen abgerissene Haus. Frau Rabe und Herr Michels unterhalten sich auf der Autofahrt zur amerikanischen Hahn Airbase, ihrem Arbeitsplatz.
Reitz zeigt einerseits jene Lebensumstände, die das Leben in der kargen und abgelegenen Hunsrückregion einst ausgemacht haben und bis heute teilweise noch ausmachen, so z.B. den traditionellen Schieferabbau und dessen Weiterverarbeitung, das Edelsteinschleifen oder die Forstwirtschaft.
Auf der andren Seite ist es die durch die Geschichte veränderte Heimat, die dem Zuschauer vorgeführt wird.
Im Zentrum stehen immer die Bewohner, die im Gegensatz zu den späteren Protagonisten der „Heimat-Trilogie, wie Paul oder Hermann, gerade nicht diese Erde verlassen haben, um sich in der Fremde entweder zu finden oder neu zu erfinden. Die Menschen, die hier zu Wort kommen, sind als Träger ihrer ganz persönlichen Geschichten das kollektive Bewusstsein dieser Region. Sie vermögen, den Blick über die Kulissen hinaus zu öffnen, in eine andere Ebene, in eine andere Zeit.
Der Film beschreibt das Hunsrückleben in emotional aufgeladenen Bildern. Die Hunsrücker Landschaft ist teils in langen, elegischen Kamerafahrten, teils in festen Totaleinstellungen in Szene gesetzt. Die Tonspur ist voll von traditionellen Gesängen und Volksweisen jener Region, die von Bergarbeitern oder Chören vorgetragen werden. Immer wieder kommentiert Edgar Reitz auktorial aus dem OFF. Auffällig ist auch die schon hier erprobte Mischung von Schwarzweiß- und Farbmaterial, die zu einem herausragenden ästhetischen Mittel der späteren „Heimat“ werden soll, ebenso wie diverse optische Stilelemente. Die einzelnen Szenen des Dokumentarfilms sind nicht chronologisch aneinandergereiht, sondern netzartig ineinander verwoben.
Eine Szene wird durch eine andere unterbrochen, der „Plot“ später erst wieder aufgenommen. Parallelität erzielt hier den Effekt der Gleichzeitigkeit. Das Bild erweitert sich, das Gezeigte steht in gefühlter Beziehung zueinander. Die Einheit von Ort und Zeit kommt zum Tragen, das Hunsrücker Bild gewinnt an Dimensionalität. In den „Geschichten aus den Hunsrückdörfern“ ist das gesamte Hintergrundmaterial, das Reitz bei seinen Vorort-Recherchen für das anstehende fiktionale Projekt gesammelt hat, in dokumentarischer Form zusammengefasst. Gerade deswegen ist dieser Dokumentarfilm kein journalistischer Tatsachenbericht über die bäuerlichen Lebensbedingungen der Hunsrückregion, sondern vielmehr ein atmosphärisches Stimmungsbild, in das Reitz nach seiner „Rückkehr“ für die Vorbereitung seines „Heimat“ Projektes selbst eingetaucht ist.
Dieser Film vermag, einen Einblick in das zu geben, was Edgar Reitz bei seiner autobiographisch geprägten Drehbuchentwicklung für „Heimat“ im Hunsrück beeinflusste. Es wird deutlich, welche Erinnerungen an seine eigene Vergangenheit in ihm geweckt wurden und in welcher Form er diese später fiktional umzusetzen vermochte. Und so kann es auch nicht verwundern, dass einige der im Dokumentarfilm mündlich überlieferten Episoden in „Heimat“ dramatisiert wiederkehren. Die „Geschichten aus den Hunsrückdörfern“ stellen somit ein Präludium zur „Heimaf‘-Trilogie dar oder, wenn man so will, einen dokumentarischen Prolog.
Das Filmteam bestand im Wesentlichen aus jenen Kollegen und Freunden, die auch kurze Zeit später an der Umsetzung von Heimat beteiligt sind: Nikos Mamangakis (Musik), Heidi Handorf (Schnitt), Petra Kiener (Regieassistenz), Inge Richter (Produktionsleitung) und Joachim von Mengershausen (Redaktion WDR).
Aus einem Brief von Edgar Reitz an Ulrich Gregor vom 14.1.1982:
Inhaltlich befaßt sich der Film mit meiner Heimat und den Menschen, die ich als Junge verlassen habe, um in den Städten das Filmemachen zu erlernen. Sie werden merken, daß in dieser Heimat alle Motive vorkommen, die ich in meinen Filmen seit fast 20 Jahren behandle. Insofern ist der Film ein Schlüssel zu meinem Werk und er zeigt auch im Verhältnis zu den Bildern und den Menschen meine Einstellung zu unserem Metier. Dies ist ein Lieblingskind von mir und ich bitte Sie, damit glimpflich umzugehen.
Für die Bundesbahn ist der Hunsrück unerschlossenes oder aufgegebenes Gelände. Wer mit dem Zug vom Rhein her anreist, muß in Kim aussteigen und mit dem Bus weiterfahren – es sei denn, es ist gerade Wochenende, dann hilft nur noch der Daumen oder ein Taxi. Es ist also gar nicht so einfach, ohne Auto diesen deutschen Landstrich zu erreichen, man muß sich heranarbeiten an dieses Stück nahezu unberührter Bilderbuchnatur, in die rund 380 Dörfer fast unmerklich eingepaßt sind. Der Lauf der Jahrhunderte ist hier vorübergegangen, ohne Spuren zu hinterlassen, noch immer übersteigt die Einwohnerzahl pro Dorf selten 300 Seelen, die Kreisstadt Simmern mutet da mit fast 7000 Bürgern schon an wie ein Stück große Welt.
Quelle: Edgar-Reitz.de
Hörspiel für den Westdeutschen Rundfunk
Ein Einwurf
Anfang der 80er Jahre waren Edgar Reitz und Peter Steinbach im Hunsrück auf der Suche nach Geschichten für das Drehbuch von HEIMAT. In dieser Zeit schrieb Steinbach ein Hörspiel für den WDR („Hell genug – und trotzdem stockfinster“), dass sehr an einige Szenen aus dieser Dokumentation erinnern (Szene 25ff. siehe unten).
Diese Hörspielproduktion steht aber offiziell in keinem Zusammenhang zur Doku von Edgar Reitz!
Offizielle Beschreibung des Projektes:
Ein kleines Fernsehteam dreht in Schlierscheid, einem Ort im Hunsrück, ein Dokumentarspiel über die letzten Wochen vor Kriegsende. Im Zentrum der Geschichte steht Johannes Best, der damals im Frühjahr 1945 als Siebzehnjähriger in der Nähe seines Heimatortes stationiert war. Aus seiner persönlichen Sicht schildert er nun seine damaligen Erlebnisse und geht auf Wunsch des Regisseurs die Schauplätze noch einmal kommentierend ab. Doch sein Erinnerungsstrom, der, angereichert durch Skizzen der Situation anderer Dorfbewohner, die allgemeine Stimmung vor Kriegsende spiegelt, wird immer wieder unterbrochen durch die „besonderen Erfordernisse“ des Mediums Fernsehen. So verbirgt sich hinter der Geschichte über Bests Erlebnisse eine kritische Studie über die alltägliche Arbeit beim Fernsehen, über die emotionale Verarmung eines Teams und die Gefahr selbst für einen neugierigen Filmemacher, andere Menschen zu originellem Material zu degradieren.
Link zum Hörspiel